Es fing 2010 in kleiner Runde an, dann legte Boiler Room eine unglaubliche Erfolgsgeschichte hin – und veränderte die Clubszene für immer. Anfang 2025 wurde die Firma zum zweiten Mal verkauft und steht seither umso mehr in der Kritik. Anlass genug, die chaotische Geschichte von Boiler Room aufzurollen.
Ob Kaytranada 2013 in Montréal oder Grimes auf Ibiza, Jamie xx 2014 auf einem Dach, Solomun 2015 in Tulum und Fred again.. im Londoner Sommer 2022: Boiler Room hat ikonische Momente der Clubkultur zugleich geschaffen und festgehalten, sie für die gesamte Welt weitgehend frei und dauerhaft verfügbar gemacht – und die internationale Clubszene für immer verändert. Das Verhältnis zwischen DJ und anwesender Crowd ebenso wie zum Publikum zuhause wurde neu definiert, und damit die Rolle von DJs beziehungsweise die an sie gestellten Erwartungen gleich mit. Der Erfolg von Boiler Room war ein treibender Faktor für die Eventisierung des Auflegens und eine neue Form des Starkults um DJs.
All das konnte niemand voraussehen, als im März 2010 in einem ehemaligen Heizungskeller eines Gebäudes im Londoner Stadtteil Hackney die erste Ausgabe des Boiler Room stattfand. Thristian BPM spielte ein DJ-Set, das live auf der Video-Streaming-Plattform Ustream ausgestrahlt wurde und dem ein paar Menschen persönlich beiwohnten. Bald traten Sampha, James Blake und Theo Parrish dort auf und ging es vom improvisierten Kabuff in größere Clubs überall auf der Welt. Die live-gestreamten Partys setzten neue Standards, was auch Kritik auf sich zog. Mitten ins Geschehen zu zoomen: Das sei nicht inklusiv, sondern ein Verrat an den Werten des Undergrounds, hieß es mancherorts.
Im Herbst 2021 kam es zum buchstäblichen Sellout, als Boiler Room von der Ticketplattform DICE übernommen wurde. Anfang 2025 wechselte Boiler Room erneut den Besitzer und ging an den Veranstalter Superstruct über, der seinerseits kaum ein halbes Jahr zuvor von der Investmentfirma KKR übernommen worden war. War dies ein trauriger oder doch triumphaler vorläufiger Höhepunkt in einer Geschichte voller Ausverkäufe? Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass aus den DJ-Sessions im muffigen Kabuff eine globale Marke wurde? Und wie überhaupt hat sich Boiler Room bis dahin halten können?
Die Vorläufer: VIVA, DJ-Sets.com und die Dubstep Warz
Die Idee, DJ-Sets in audiovisueller Form festzuhalten und sogar live zu übertragen, war zum Zeitpunkt des Boiler-Room-Debüts geradezu altmodisch. Der deutsche Musikfernsehsender VIVA ließ bereits Mitte der 1990er-Jahre im Rahmen der Show Housefrau DJs wie Electric Indigo zur besten Sendezeit auftreten und zeigte während Live-Übertragungen von der Loveparade Sven Väth bei der Arbeit. Nachdem der erste Online-Live-Video-Stream im Jahr 1995 (!) noch ein aufwändiges Event war, ermöglichte zudem die zunehmende Digitalisierung ab der Jahrtausendwende kleineren Projekten, über das Internet ein Publikum überall auf der Welt an DJ-Sets teilhaben zu lassen, ob in Echtzeit oder auf Abruf.
Wer etwa bei YouTube etwas gräbt, findet noch reichlich verpixelte Videos aus einem Berliner Studio kurz nach der Jahrtausendwende, in dem unter dem einprägsamen Namen DJ-Sets.com etwa DJ Jauche unter der wachsamen Linse einer Webcam auflegte. Im Laufe des Jahrzehnts wurde Video dann immer mehr zum Leitmedium des Internets. Portale wie Vimeo und YouTube sprossen aus dem Boden, mit der 2005 eingeführten Video-Funktion von Skype etablierte sich sogar Videotelefonie. Auch die ersten Live-Stream-Plattformen gingen an den Start, darunter allein im Jahr 2007 der Twitch-Vorgänger Justin.tv und das für diese Geschichte wichtige Portal Ustream.
Angesichts all dessen ist es nicht überraschend, dass die Idee zum Boiler Room aufkam. Die Gründer waren ja nicht einmal die einzigen, die zu dieser Zeit darauf kamen: Ebenfalls im März 2010 begann der Tokioter Club Dommune, die dortigen Sets live zu übertragen. Doch der Club interessierte sich bei der Darstellung des Geschehens nicht für die Party oder gar sonderlich die Figur des DJs. Frühe Videos wie die von DJ Yogurt zeichnen sich vielmehr durch einen deutlichen Fokus auf Auflegetechnik und die multiperspektivische visuelle Unterstreichung der Musik aus. Der frühe und unvermittelte Erfolg des Boiler Room erklärt sich hingegen aus einer anderen Schwerpunktlegung: Clubbing als Erlebnis.
Dass die Party bei Boiler Room im Vordergrund stand, hat wohl auch mit der britischen Herkunft des Projekts zu tun. Metropolen wie London haben eine lange Tradition von Piratensendern, über die sich Generationen von Jugendlichen über die neuesten Entwicklungen der Clubszene informierten, während sie über das Radio veritablen Studio-Raves beiwohnten – ein Prinzip, das sogar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk adaptiert wurde. Mit Sendungen wie den legendären, von Mary Anne Hobbes moderierten Dubstep Warz wurde der Grundstein für die vier Jahre später stattfindende erste Ausgabe von Boiler Room gelegt. Sie fügten dem Bilder hinzu und machten es noch nahbarer.
Ein Online-Magazin und eine Webcam an der Wand
Als Blaise Bellville gemeinsam mit Thristian BPM und dem späteren NTS-Radio-Gründer Femi Adeyemi diese erste Ausgabe von Boiler Room organisierte, konnte sich das Team also ebenso auf eine reichhaltige kulturelle Tradition stützen wie auf günstige technologische Bedingungen. Obendrein war das Trio äußerst gut in der Londoner Szene vernetzt. Nach einem von Grime und Dubstep geprägten Jahrzehnt erlebte diese zu dem Zeitpunkt einen erneuten Boom. Das Phänomen Post-Dubstep begann sich zu formieren, während sich dank Labels wie Eglo (Mitbegründer Sam Shepherd alias Floating Points war bei der vierten Boiler-Room-Ausgabe im April 2010 zu Gast) ein neuer House-Sound etablierte.
Die Voraussetzungen waren noch anderweitig günstig: Den titelgebenden Heizungskeller hatte Bellville in dem Gebäude vorgefunden, in dem das Büro seines eigentlichen Projekts zu dieser Zeit untergebracht war. Der Zögling einer verarmten Adelsfamilie hatte im Jahr 2008 das Online-Magazin Platform gegründet. Mit Blick auf die weiterhin online abrufbare Website finden sich dort neben Ankündigungen der ersten Boiler-Room-Ausgaben Artikel und Fotostrecken, die sich deutlich an der Tonalität, der Ästhetik und den Themen von VICE orientieren – damals noch die unbestritten coolste Publikation der Welt.
Wer noch tiefer gräbt, findet heraus, dass das hinter Platform stehende Unternehmen von Martin Hall mitbegründet wurde, einem erfahrenen Musikmanager, der unter anderem die Karriere der Manic Street Preachers betreut hatte. Hinter Read Platform Ltd. schien Kapital zu stehen. Die Anfänge von Boiler Room waren indes provisorisch. Bei der ersten – nicht online archivierten – Ausgabe seien nur vier Leute anwesend gewesen, sagte Bellville 2014 in einem Interview. Das Set-up habe neben den Decks aus kaum mehr als einer an die Wand geklebten Webcam bestanden. Die Inspiration für die Nutzung von Ustream als Plattform war von DJ Oneman gekommen, der seine Sets aus dem Wohnzimmer ins Netz streamte.
Bald schon zog Boiler Room mehr Aufmerksamkeit auf sich als das Magazin Platform. Was als intime Session für ein paar Eingeweihte begonnen hatte, zog kaum mehr als ein halbes Jahr nach der ersten Ausgabe in den Club Corsica Studios um. Und schon einige Monate später wurden in immer mehr Städten, darunter auch Berlin, Ableger geschaffen. Ein tragbares Geschäftsmodell stand hinter all dem indes lange Zeit nicht.

Sehen und gesehen werden: Boiler Room als Marketing-Tool
Denn was ist Boiler Room eigentlich für ein Unternehmen ? "Boiler Room ist eine Live-Online-Musik-Show", zuckte Gründer Blaise Bellville anno 2012 in einem Interview mit den Schultern. So einleuchtend das klingt, impliziert es zweierlei: Einerseits ist Boiler Room ein Veranstalter von Events, andererseits ein Medienunternehmen, das deren Übertragung erledigt. Damit gehört Boiler Room zu gleich zwei Branchen, die schon immer eng miteinander verbandelt waren. Doch anstatt auf Ticketverkäufe für die Veranstaltungen und/oder Zahlungen für den Zugang zu den Streams zu setzen, fuhr die Firma von Bellville lange Zeit eine ganz andere, eigentlich kuriose Strategie: Alles war umsonst.
Soziales Kapital war dennoch vonnöten. Zwar konnte das Publikum live oder im Nachhinein über Ustream und später YouTube oder Facebook den Partys aus der Ferne beiwohnen und war der Eintritt zu den realräumlichen Events per se kostenfrei. Rein kamen aber nur all jene, die auf der Gästeliste standen. Das machte Boiler Room zugleich inklusiv und exklusiv, den Rave für alle erfahrbar und doch nur einem elitären Kreis zugänglich. Ums Gesehenwerden ging es primär auch den DJs. Direkte Einkünfte konnten sie sich nicht wirklich versprechen. Nach eigenen Angaben zahlt Boiler Room erst seit Sommer 2020 für jeden Auftritt ein Honorar. Lange Zeit war dies nur bei gesponserten Veranstaltungen der Fall, bevor erst später für vereinzelte Events Tickets verkauft wurden
Was also bewegte Stars wie Richie Hawtin, Radiohead oder sogar Diplo in den Anfangsjahren dazu, für die Kamera zu spielen, während die Party hinter ihrem Rücken abging? Der Spaß an einer Feier im intimen Ambiente, die Teilhabe an einer medialen Revolution oder die Dokumentation des eigenen Könnens für die Nachwelt – es mögen je verschiedene Gründe gewesen sein. Das rasante Wachstum von Boiler Room – nach Stippvisiten in Amsterdam sowie der Etablierung einer Berliner Dependance im Stattbad im Wedding folgten ab 2012 die ersten Ausgaben in den USA – offenbarte jedoch ebenso das Potenzial des Formats als Marketing-Maschine.
Zuvorderst versprach Boiler Room dank der exzellenten Kuration im innovativen Format einen aufmerksamkeitsökonomischen Vorteil in einer Ära, in der die Fachpresse wie die 2014 eingestellte de:bug zunehmend wegstarb und die Jesus-Pose auf Facebook an Charme zu verlieren begann. Das erkannten nicht nur DJs.
Energy Drinks, Schnaps und zwei neuen Firmen
Im ersten Jahr von Boiler Room sei die Arbeit an dem Projekt trotz aller Erfolge noch für niemanden ein richtiger Job gewesen, erinnerte sich Gründer Blaise Bellville im Jahr 2016 – und somit kein lukratives Geschäft. Weder hatte das Format in seinen Anfangsjahren eine eigene Website, noch offerierten zu dieser Zeit Plattformen wie YouTube oder Facebook lukrative Monetarisierungsmöglichkeiten. Den traditionellen Weg eines Medienunternehmens, das über Anzeigen sein Geld macht, habe er nicht einschlagen wollen, betonte Bellville damals. Und sprach dennoch im nächsten Zug darüber, wie seine Veranstaltungsfirma Sponsoring-Deals zusagte.
Sponsoring hat in der Veranstaltungsbranche eine lange Tradition, und die internationale Clubszene wurde erstmals in den 1990er-Jahren Austragungsstätte von einem Paradigmenwechsel in den Strategien großer Firmen. Vor allem die durch immer härtere Gesetzesauflagen in ihren Möglichkeiten beschnittenen Tabak- und Alkoholbranchen setzten auf kulturelles Marketing. Statt nur mehr ein paar Banner bei Festivals aufzustellen, sponserte beispielsweise eine Zigarettenmarke ab dem Jahr 1994 den sogenannten Airrave, bei dem unter anderem Jeff Mills bei einem Flug von Frankfurt nach Kreta auflegte. Kaum eine andere Firma installierte sich aber dermaßen geschickt in der Szene wie Red Bull.
Mit der im Jahr 1998 ins Leben gerufenen und von der Agentur Yadastar betriebene Red Bull Music Academy (RBMA) sponserte der Energy-Drink-Hersteller weltweite Workshops und Festivals, schwang sich also zur Talentschmiede und zum Veranstalter auf. Es nimmt daher kaum Wunder, dass die RBMA im Februar 2011 als erste Partnerin von Boiler Room ins Boot geholt wurde. Von da an ging es weiter, kollaborierte Boiler Room mit dem Sportartikeler Umbro sowie ab 2014 mit der Schnapsmarke Ballentine’s – diese Zusammenarbeit hält bis heute an. Auch andere Alkoholmarken finanzierten immer wieder Boiler-Room-Ausgaben und -Spezialformate im Gegenzug für ein bisschen subkulturelle Sichtbarkeit.
Boiler Room begann also, sich von Sponsoring zu Sponsoring zu hangeln, während sich die Firma im Hintergrund neu aufstellte. Platform-Mitbegründer Martin Hall stieg Mitte 2013 aus, Read Platform Ltd. benannte sich in Boiler Room Ltd. um und es kamen zunehmend neue Teilhaber:innen hinzu, sogar eine zweite Firma sowie schließlich ein weiteres Unternehmen namens Boiler Room Records Ltd. wurden gegründet. Ein ziemliches Durcheinander, das wohl aber im Zeichen einer Professionalisierung stand – just zu einer Zeit, in der Clubmusik zunehmend den Mainstream erreichte.
NPCs mit Main-Character-Syndrome
Filme wie Berlin Calling und der Hype um das Berghain hatten insbesondere die Berliner Clubszene in den Fokus der internationalen Musikwelt gerückt. DJs wurden – wieder einmal – zu Stars und Boiler Room bot ihnen das passende Forum. Das Publikum hingegen hatte in der Clubkultur historisch gesehen immer eine ambivalente Rolle gespielt: einerseits unerlässlich für das Gelingen einer jeden Party, andererseits nicht wirklich die Protagonist:innen der Nacht. Doch obwohl die DJs bei ihren Sets im Boiler Room buchstäblich im Fokus standen, konnten sich erstmals auch die um sie herum gruppierten Mitglieder des Publikums als Sternchen inszenieren.
Diese Entwicklung mutete paradox an, weil in immer mehr Clubs die Handykameras abgeklebt wurden, deren Besitzer:innen sich aber am nächsten Abend bei Boiler Room im elitären Kreis im Rampenlicht zeigten. Das legendäre Kaytranada-Set von 2013 ist wohl der beste Beweis dafür, wie vormalige NPCs ein astreines Main-Character-Syndrome entwickelten. Das zog viel Kritik auf sich. In einem vielbeachteten Kommentar für das Online-Magazin Das Filter sprach die Journalistin Mariann Diedrich im Sommer 2014 von Boiler-Room-Sets als "VIP-Feiern und grotesken Kleinoden der Massenkultur", die "der Nivellierung des Geschmacks und der Globalisierung des Hipstertums" dienten.

Für Diedrich verwässerte die neuerliche Entwicklung das Erlebnis von Clubkultur insgesamt. "Das periodische Ausklinken aus der alltäglichen Lebenswelt verliert seine letzte Sinnhaftigkeit, wenn durch die Online-Präsenz des Clubgeschehens der Ausnahmezustand ständig abrufbar und präsent gemacht wird", donnerte sie. Darin formulierte sich der Vorwurf eines Ausverkaufs. Denn wo verliefen die Trennlinien zu den EDM-Spektakeln von David Guetta, Steve Aoki und Co.? Vor allem, wenn mehr als oft über dem Ganzen die Logos irgendwelcher Schnapsmarken prangten? Boiler Room mag nicht allein die allgemeine Identitätskrise der Szene in der Mitte des 2010er-Jahre ausgelöst haben, befeuerte sie aber.
Vielerorts wurde mit Ironie und Spott reagiert. Auf Tumblr wurden peinliche Szenen aus Boiler-Room-Videos in GIF-Form dokumentiert, bei VICE ganze Typologien von Boiler-Room-Gästen erstellt, und in Leipzig tanzten sie beim Broiler Room, während der damals noch unbekannte Shahak Shapira kurze Clips mit Eurodance-Smashern unterlegte – aus heutiger Perspektive ein fast schon ebenso visionärer Scherz wie das Rip-Off-Format Toilet Room, das die Ästhetik des späteren Konkurrenten HÖR vorausnahm. Doch blieb es nicht bei harmlosen Späßchen. Vor allem weibliche DJs, zumal solche, die sich wie Grimes nicht um das vermeintlich Goldene Handwerk scherten, bekamen viele Hasskommentare ab.
Eine Revolution wird von ihren Kindern gefressen
Boiler Room bot DJs neue Möglichkeiten des Selbstausdrucks. Auch ihr Handwerk veränderte sich, weil ihre Sets sich nicht mehr in den Fluss einer Clubnacht einpassen, sondern für sich selbst funktionieren mussten. Für sie bedeutete ein Set beim Boiler Room, in einem Club aufzukreuzen, den USB-Stick reinzuschieben und ohne Warm-up bei über 140 bpm loszudonnern – und das nicht etwa zur Peak-Time, sondern um 19 Uhr. Ebenso veränderte sich das Verhalten hinter den Decks. Weil DJs mehr denn je unter Beobachtung standen, inszenierten sie sich umso mehr als Entertainer:innen.
Das hörte nicht damit auf, dass sich immer mehr DJs zur Angewohnheit machten, alle paar Sekunden die EQ-Knöpfe zu befummeln. Einerseits mussten sie innerhalb einer Stunde möglichst effektiv ihr Können unter Beweis stellen, andererseits produzierte ein gekonnt platzierter Drop, wie unter anderem DJ EZ bewies, Momente mit nachhaltiger Wirkung. Das Auflegen verlor zu Teilen seine erzählerische Funktion und rückte stattdessen die Schaffung intensiver Augenblicke in den Fokus. Das bereitete eine Entwicklung vor, die im Instagram-Zeitalter ihre Blüten schlug, in dem nach jedem Wochenende massenhaft kurze Clips mit den "Filetstücken" eines jeden Sets online gehen.

Auch das wurde persifliert – mal mit einem Augenzwinkern, mal mit konzeptioneller Bierernstigkeit. Bis heute gilt das Set von Anklepants als surrealer Höhepunkt der frühen Jahre, obwohl der Mann mit der phallischen Gumminase mit der karnevalesken Hochleistungsunterhaltung dem Publikum kaum etwas anderes bot als viele andere DJs auch. Mit Ausnahme von SND wohl, die das neue Performance-Paradigma mit der Trockenheit von zwei Steuerberatern beim morgendlichen E-Mail-Check konterkarierten. Solche Stunts kamen schlecht an. Das Publikum reagierte darauf oder etwa auf das 20-minütige Video von Noise-Koryphäe Merzbow mit Hohn und Unverständnis.
Trotz aller Negativeffekte bot Boiler Room auch eine neue Offenheit und Vernetztheit an, die einen intensiven Austausch hätten prägen können. Stattdessen verengten sich zunehmend die Ansprüche des Publikums daran, was DJs leisten sollten. Obwohl sich das kuratorische Team sichtlich darum bemühte, ihm mehr zu bieten als nur Hands-up-Momente und Boller-Techno, wurde immer deutlicher, dass genau das zunehmend gewünscht wurde. Die von Boiler Room losgetretene Revolution wurde so gesehen von ihren Kindern gefressen. Da half es wenig, dass das Unternehmen ab Mitte der 2010er-Jahre das Angebot verbreiterte und versuchte, sich seriöser zu machen.
Konkurrenz, Diversifizierung – und Verluste
Mitte der 2010er-Jahre war das Prinzip Boiler Room schon lange nicht mehr innovativ und formierte sich Konkurrenz. Das britische Magazin Mixmag brachte mit The Lab einen eigenen Boiler-Room-Verschnitt an den Start, im Jahr 2016 begann The Lot Radio aus New York DJ-Sets live zu streamen und auch Cercle, heute Veranstalter von gigantösen Produktionen im pittoresken Ambiente, ging an den Start. Allerdings befand sich auch die Medienbranche – der Boiler Room zur Hälfte angehörte – im Umbruch und legte, nachdem Facebook ein paar Zahlen gefälscht hatte, einen "pivot to video" hin. Der Wandel hin zu audiovisuellen Formaten kam für viele verfrüht, nicht wenigen brach er das Genick.
Als genuines Video-Format war Boiler Room eigentlich bestens für dieses neue Zeitalter gerüstet. Es überraschte also nicht, dass die geballte Kompetenz von Boiler Room bald zur Umsetzung von aufwändigen, nicht primär an Events gebundenen Formaten eingesetzt wurde. Im Rahmen der Serie In-Stereo wurden intime Konzertfilme ohne Publikum mit Hauschka, To Rococo Rot und Ninsennenmondai gefilmt, die an das Prinzip von vergleichbaren Serien wie der des US-amerikanischen Radiosenders KEXP angelehnt waren. Auch an journalistischen Formaten versuchte sich Boiler Room, zum Beispiel im Rahmen einer Serie über die Clubszene des Westjordanlands.
Während das Medienunternehmen Boiler Room sich diversifizierte, schien es dem Veranstalter Boiler Room ganz gut zu gehen. Im Jahr 2016 konnte Boiler Room Ltd. erstmals einen schmalen Gewinn vermelden, nachdem Sets wie das von Solomun in Tulum – bis heute das meistgestreamte YouTube-Video auf dem Kanal – trotz aller Konkurrenz noch einmal mehr das internationale Standing des Formats untermauert hatten. Es sollte allerdings nicht dabei bleiben: In den beiden Folgejahren machte Boiler Room erst fast zwei und dann über sechs Millionen britische Pfund Verlust. Trotz aller aufsehenerregenden Kollaborationen wie mit Google Pixel, trotz der Gründung einer eigenen Streamingplattform namens 4:3.
Nach fast einem Jahrzehnt als Taktgeber des Pulses der Zeit konnte Boiler Room nicht aus dem "pivot to video"-Moment schöpfen. Obendrein erwies sich, dass auf Veranstaltungsseite kein nachhaltiges Geschäftskonzept etabliert worden war. Die Einführung der deutlich an das Erfolgsformat COLORS angelehnte Reihe Energy wirkte da fast wie ein Eingeständnis an die eigene Vorgestrigkeit. die Ausrichtung eines ersten Festivals im Londoner Stadtteil Peckham deutete 2019 an, dass das Unternehmen sein Heil als klassischer Veranstalter suchte, nachdem schon zuvor ein reguläres Ticketing-System für einzelne Events eingeführt wurde. Das wurde auch von E-Mails untermauert, die im selben Jahr heiß diskutiert wurden.
In ihnen wurden lokalen Veranstalter:innen angeboten, ihre eigenen Partys unter dem Namen Boiler Room auszurichten – gegen Gebühr, wohlgemerkt, aber ohne zusätzlichen Live-Stream. Das zog viel Zorn auf ein Unternehmen, das unter anderem dafür in der Kritik stand, DJs nicht immer zu bezahlen – mit Ausnahme von gesponserten Events oder solchen, für die Tickets verkauft wurden. Für nicht wenige schien Boiler Room seine Übermacht in der Szene nunmehr endgültig auszunutzen. Doch warf die Affäre ebenso die Frage auf, ob Boiler Room diese Macht überhaupt noch innehatte.
Der buchstäbliche Sellout – Teil 1
Niemand in der Szene war auf eine Pandemie vorbereitet. Manche traf es schlimmer als andere, einige gingen sogar als Gewinner:innen aus rund zwei Jahren Lockdown-Hopping hervor. Dazu gehörten vor allem jene, die sich mit audiovisuellen Inhalten hervortaten. Weil der im Jahr 2019 auf YouTube gelaunchte Kanal HÖR auf die Anwesenheit eines Live-Publikums verzichtete, gehörte das Berliner Unternehmen zu ihnen. Auch die megalomanischen Produktionen von Cercle ließen sich auflagenkonform umsetzen und zogen deshalb das Publikum an, das sich zuvor noch Boiler Room ins Wohnzimmer gestreamt hatte.
Weil für lange Zeit eben dieses Wohnzimmer zum eigentlichen Dancefloor wurde, überholten diese Formate wie auch Plattformen wie Twitch oder sogar TikTok den altgedienten Boiler Room von links. Das Unternehmen zeigte sich zu Pandemiebeginn sichtlich bemüht, Gelder für die schwer betroffene Szene bereitzustellen, und legte 2021 mit der Einführung des Broadcast Lab sogar ein Förderprogramm auf. Doch kam es während der langwierigen Zwangspause selbst ins Straucheln. Eine staatliche Finanzspritze in Höhe von fast 800.000 britischen Pfund mag zwar geholfen haben, lange konnte sich Boiler Room indes nicht über Wasser halten.
Im Oktober 2021 wurde öffentlich, dass Boiler Room elf Jahre nach der ersten Ausgabe an die britische Ticketing-Plattform DICE verkauft wurde. Das 2014 gegründete Unternehmen hatte sich in den ersten Pandemiejahren auf den Verkauf von Tickets für online stattfindende Live-Veranstaltungen spezialisiert und akquirierte in diesem Sinne die geballte Kompetenz eines Teams, das über ein Jahrzehnt Erfahrung mit genau diesem Geschäft vorweisen konnte. Mehr noch hatte der rasende Stillstand hochgeschwinder Clubmusik, gefiltert von Video-Apps wie TikTok, einen unwahrscheinlichen Hype beschert. Den wollte DICE wohl perspektivisch für sich nutzen.
Kaum jemand wusste die Dynamiken dieser Apps dermaßen gut zu nutzen und nach Aufhebung aller Auflagen dermaßen nahtlos in den Realraum zu übertragen wie Fred again... Der Sprößling eines Adelsgeschlechts sorgte Mitte 2022 mit einem aufsehenerregenden Set nahezu im Alleingang dafür, dass Boiler Room wieder ins Gespräch kam. Er personifizierte die von Boiler Room mitbefeuerten Entwicklungen der DJ-Figur hin zum dauergrinsenden Alleinunterhaltungsgaranten und hatte damit durchschlagenden Erfolg. Doch die neue Aufmerksamkeit ließ sich von Boiler Room und DICE nicht in Einnahmen übersetzen.
Der buchstäbliche Sellout – Teil 2
Unter der Ägide DICE setzte Boiler Room auf Leuchtturm-Events wie die Reunion der britischen Millennial- Legenden Sugarbabes oder die Release-Show von Charli XCXs Album "brat". Mit der bloßen Schaffung von kulturellen Höhepunkten lässt sich allerdings, wie die Geschichte von Boiler Room zuvor gezeigt hatte, nicht immer unbedingt Geld machen. DICE hatte zwar in den ersten drei Pandemiejahren einige Investitionsspritzen erhalten und expandierte zunehmend, doch ging all das nicht mit entsprechenden finanziellen Gewinnen daher: Zwar wuchsen die Einnahmen des Unternehmens, umso mehr aber die Verluste. Das Jahr 2022 schloss DICE mit einem Minus von 50 Millionen Euro ab.
Im Sommer 2024 kursierten Gerüchte, nach denen DICE den Verkauf von einer signifikant hohen Anzahl von Unternehmensanteilen in Erwägung zog. Dazu ist es bis dato nicht gekommen, abverkauft wurde allerdings ein Asset namens Boiler Room: Im Januar 2025 akquirierte der Veranstaltungsriese Superstruct, der seinerseits kurz zuvor vom Investmentunternehmen KKR aufgekauft worden war, Boiler Room für eine unbekannte Summe. Der erneute Sellout zog wieder viel Empörung nach sich. Denn nunmehr befindet sich Boiler Room im Besitz des Großkapitals.
GROOVE-Redakteur Max Fritz schrieb von einem "Hype-Moment für das Portfolio" der Beteiligungsgesellschaft KKR, die unter anderem beim Axel-Springer-Verlag und zahlreichen Erdölfirmen mitmischt. Des Weiteren wird der Firma vorgeworfen, indirekt an "der Entwicklung illegaler israelischer Siedlungen im Westjordanland" beteiligt zu sein. Besonders letzteres ist pikant, drehte Boiler Room eben dort im Jahr 2016 eine vielbeachtete Serie, die den politischen Kontext thematisierte. Zu eben jenem hatte das Team anderweitig – nicht ohne Gegenwind – Stellung bezogen. Im März 2025 bekräftigte die Belegschaft unter anderem, sich zur umstrittenen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zu bekennen.
Der aufklaffende Widerspruch zwischen politischem Selbstverständnis und wirtschaftlicher Vereinnahmung ist wohl nicht das einzige Dilemma, mit dem sich Boiler Room derzeit konfrontiert sieht. Noch ist unklar, wie das defizitäre Geschäft unter der Führung von Superstruct wieder in Fahrt gebracht werden kann. Der Verkauf von Merch, unter anderem T-Shirts mit Stills der Sets von Solomun und anderen zum Preis von 56 Euro, scheint kaum zukunftsweisend: Wer will ernsthaft mit einem überteuerten Screenshot auf der Brust herumlaufen? Wie könnte Superstruct aus dem Veranstaltungsgeschäft von Boiler Room Profit schlagen? Und ist nach 15 Jahren nicht vielleicht doch einfach die Luft raus?
Als im März 2010 die erste Ausgabe von Boiler Room über Ustream ausgestrahlt wurde, hätte sich wohl niemand der Beteiligten träumen lassen können, welche Entwicklungen damit in Gang gesetzt würden. Boiler Room hat die internationale Clubszene für immer verändert – freilich nicht allein zum Schlechten. Ganze Karrieren bauen auf einstündigen Sets auf, manche Videos sind für Fans zu treuen Begleitern geworden. Und doch wirkt der Vorwurf des Ausverkaufs der ursprünglichen Werte der Clubkultur nach zwei buchstäblichen Sellouts umso schwerer. Vor allem aber hat es den Anschein, als sei die Clubkultur bereits weitergezogen. Und sei es nur zu TikTok.
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